N. Ritzer: Der Kalte Krieg in den Schweizer Schulen

Cover
Titel
Der Kalte Krieg in den Schweizer Schulen. Eine kulturgeschichtliche Analyse


Autor(en)
Ritzer, Nadine
Reihe
Geschichtsdidaktik heute
Erschienen
Bern 2015: h.e.p. verlag
Anzahl Seiten
568 S.
Preis
CHF 49.00
URL
von
Lukas Boser, Section d'histoire, Université de Lausanne

Es dauert manchmal etwas länger, bis man auf ein gutes Buch aufmerksam wird, und manchmal dauert es dann noch einmal seine Zeit, bis einem bewusst wird, wie bedeutsam das Werk wirklich ist. Genau dies ist mit der vorliegenden Publikation geschehen, die schon seit einiger Zeit veröffentlicht war, als ich angefragt wurde, sie zu besprechen, und die dann noch viele Monate auf meinem Schreibtisch lag, ohne dass ich wusste, wie und weshalb ich dieses Buch einer breiteren Leserschaft empfehlen sollte, abgesehen davon, dass es sich hierbei um eine qualitativ hochstehende kulturhistorische Dissertation zur Schule handelt, eine Form der Schulgeschichte, die ihr Potenzial erst in jüngerer Zeit entfaltet hat.

Was spricht dafür, das Buch gerade zum jetzigen Zeitpunkt zu besprechen? Es ist die kollektive Erfahrung, von einem äusseren Feind – in diesem Fall einem Virus – an Leib und Leben bedroht zu sein. Diese Erfahrung dürfte vielen nach 1980 geborenen Schweizerinnen und Schweizern eher fremd sein, nicht aber denjenigen Generationen, die den Zweiten Weltkrieg oder den Kalten Krieg bewusst miterlebt haben. Und damit bin ich beim Thema des vorliegenden Buchs.

In ihrer umfangreichen Publikation befasst sich Nadine Ritzer, die an der Pädagogischen Hochschule Bern Fachwissenschaft und Fachdidaktik Geschichte lehrt, mit dem Kalten Krieg in den Schweizer Volksschulen. Wie der Untertitel des Werks verrät, handelt es sich um eine «kulturgeschichtliche Analyse» der Beeinflussung der Schule durch den in der Weltpolitik alles überschattenden Ost-West-Konflikt beziehungsweise der vielfältigen Reaktionen der Schule auf denselben.

Ihre Arbeit, so schreibt Ritzer in der Einleitung, «berührt verschiedene Forschungsfelder: Die Forschung über den Kalten Krieg und dessen Auswirkungen auf die Schweiz, Fragen der historischen Bildungsforschung, Themen, die traditionellerweise von der Geschichtsdidaktik bearbeitet werden, wie etwa die Entwicklung der Schulbuchdarstellungen oder der Unterrichtspraxis, sowie theoretisch-kulturgeschichtliche Themenfelder » (S. 37). Damit ist das weite Interessenspektrum, das dieses Buch auszeichnet, von Anfang an aufgespannt.

Nach den ersten beiden Kapiteln, in denen die für eine Dissertation üblichen fachwissenschaftlichen, theoretischen und methodischen Ausführungen dargelegt werden, befasst sich Ritzer in drei umfangreichen Kapiteln mit dem Gegenstand ihrer Untersuchung. Die Darstellung ihrer auf Quellen basierenden Forschung beginnt mit dem Thema «Aufgabe der Schule im Kontext des Kalten Krieges» (S. 129). In diesem Kapitel rekonstruiert Ritzer Diskurse zur Geistigen Landesverteidigung, zur Stiftung kultureller Kohärenz, zum Nutzen von Zeitgeschichte im schulischen Unterricht, zur Friedensförderung und zur Demokratieerziehung. Für diesen Teil der Arbeit stützt sich die Autorin vor allem auf die Verbandsorgane schweizerischer Lehrer- und Lehrerinnenvereine als Quellen. Dabei geht es ihr, wie für eine Diskursanalyse üblich, «weniger darum zu zeigen ‹wie es war›, als vielmehr darum zu eruieren, was wie wahrgenommen und interpretiert wurde» (S. 97).

Im vierten Kapitel widmet sich Ritzer der «Rolle der Lehrperson im Spannungsfeld gesellschaftlicher Erwartungen» (S. 342). Hier stehen die ganz konkreten Folgen, die der Kalte Krieg beziehungsweise der politische und gesellschaftliche Umgang mit demselben auf das berufliche Leben von Lehrpersonen hatte, im Fokus. Gleichzeitig ist aber auch von Interesse, wie Lehrpersonen in den jeweiligen Situationen als individuelle Akteurinnen und Akteure handelten. Dies stellt Ritzer anhand mehrerer detailliert rekonstruierter Beispiele dar.

Das fünfte Kapitel befasst sich mit dem Kalten Krieg als Unterrichtsgegenstand. Dabei untersucht Ritzer, wie der Ursprung des Ost-West-Konflikts, der Ungarnaufstand, der «Prager Frühling» und schliesslich auch die Dritte Welt und damit verbunden die verschiedenen Stellvertreterkonflikte in der Schule behandelt wurden.

Der letzte Aspekt ist insbesondere deshalb interessant, weil hier eine Verschiebung von einem Ost-West-Konflikt hin zu einem Nord-Süd-Konflikt sichtbar wird. Darüber hinaus ist dieses Kapitel bemerkenswert, weil es eine gründliche kulturhistorische Lehrbuchanalyse darstellt, von denen es – zumal in dieser Qualität – noch immer viel zu wenige gibt.

Jedes der Kapitel drei, vier und fünf ist mit einem Fazit abgeschlossen, was sinnvoll ist, denn so können sie als eigenständige Texte gelesen und allenfalls auch im Hochschulunterricht verwendet werden. Abgeschlossen wird das Buch durch ein weiteres Fazit, einen Ausblick und eine ausführliche Bibliografie.

Die gründliche Quellenbearbeitung und ihre sehr ausführliche Darstellung führen zu gewissen Längen und Redundanzen im Text. Letztere liessen sich vermutlich nicht vermeiden. Dessen ungeachtet liest sich die Arbeit sehr gut.

Schule ist mehr als der Ort, an dem Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen vermittelt werden. Schule ist eine der zentralen gesellschaftlichen Institutionen, deren Bedeutung für Enkulturation, Sozialisation und Bildung kaum unterschätzt werden kann – auch dies wurde und wird in der aktuellen Pandemie-Situation offensichtlich. Schule als gesellschaftliche Institution ist immer auch durch ihren Kontext geprägt, was besonders in Krisenzeiten deutlicher zutage tritt als sonst. Schule ist Bedrohungen, wie der Kalte Krieg eine war, jedoch nicht einfach nur ausgeliefert. Zwar ist sie in gewissem Sinn ein Spielball von Akteurinnen und Akteuren, die sich die Ängste und Sorgen der Menschen zunutze zu machen wissen. Aber die Schule beziehungsweise die in ihr arbeitenden Lehrpersonen sind selbst auch Akteurinnen und Akteure, die durchaus ihren eigenen Weg im Umgang mit bedrohlichen Situationen suchen und finden. In dieser Hinsicht, schreibt Ritzer, wurde die Schule «als zentrale Instanz für die Tradierung gesellschaftlicher Werte, kultureller Techniken und von Inhalten des kulturellen Gedächtnisses […] zu einem zentralen Schauplatz der ideologischen Auseinandersetzung des Kalten Krieges» (S. 96). Es lässt sich vermuten, dass die Schule mit der Zeit ebenso zu einem Schauplatz der Auseinandersetzung mit der Corona-Pandemie werden wird. So gesehen ist das vorliegende Buch durchaus mehr als «nur» eine historische Arbeit, denn es liefert auch Hinweise und Ansätze zum besseren Verständnis dessen, womit wir uns gegenwärtig – und in naher Zukunft – zu beschäftigen haben.

Zitierweise:
Lukas Boser: Rezension zu: Nadine Ritzer: Der Kalte Krieg in den Schweizer Schulen. Eine kulturgeschichtliche Analyse. Bern: hep 2015. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 83 Nr. 1, 2021, S. 69-71.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 83 Nr. 1, 2021, S. 69-71.

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